Zentrierung und Balance

„Ich hab meine Mitte, mein inneres Gleichgewicht verloren“, „muss erstmal zurück in meine Mitte finden“.

 

 

Aussagen, die so oder so ähnlich jeder von uns schon mal gehört oder auch selbst gemacht hat. Aber was ist genau damit gemeint? Und – vor allem – wie kann ich zurück in meine Mitte finden, wenn ich sie verloren habe?

 

 

Der Verlust des Gleichgewichts (der inneren Mitte) kann die verschiedensten Ursachen haben. Leistungsdruck, mentaler oder emotionaler Stress, jede Art von Überlastung verschiebt das bei einem gesunden Menschen natürlich vorhandene psychophysische Gleichgewicht. Aber auch eine unfallbedingte Verletzung oder eine organische Erkrankung können zum Verlust der Ausgeglichenheit führen und psychische Störungen begünstigen. Ebenso kann eine psychische Störung organische Erkrankungen fördern oder einfach die Aufmerksamkeit schmälern und einen Unfall ermöglichen.

 

 

Das Gleichgewicht geht immer dann verloren, wenn – wie bei einer Balkenwaage – auf einer Seite zu viel und auf der anderen entsprechend zu wenig in der Waagschale liegt. Zu viel körperliche Belastung : zu wenig Ruhe und Regeneration, zu viel mentale und psychische Anspannung im Beruf : zu wenig emotionaler Ausgleich, zu viel Angst : zu wenig Geborgenheit. Die Beispielpaare lassen sich gleichermaßen von vorn und von hinten lesen. Eine Zeit lang kann man die außergewöhnliche Anspannung aushalten. Solche Phasen gehören zu den Herausforderungen des Lebens. Mit der Zeit aber macht innerer Balanceverlust krank.

 

 

Zentrierung und Gleichgewicht sind die beiden Schlüssel zu Asana, dem dritten von acht Elementen des Ashtanga-Modells (ashta anga – acht Glieder), das ein „Patanjali“ genannter Herr vor ca. 2.500 Jahren in den Yoga Sutras entwickelt hat. Asana bezeichnet sowohl die Praxis der Körperhaltungen insgesamt als auch die einzelne Haltung. B. K. S. Iyengar zufolge ist Asana das Zentrum des achtgliedrigen Weges. In Asana offenbaren sich alle „höheren“ Stufen – bis hin zur endgültigen Befreiung in Samadhi (8. Stufe).

 

 

Konsequentes Streben nach Genauigkeit in der Praxis von Asana ist der Nährboden, auf dem ungebrochene Konzentration und verfeinerte (Selbst-) Wahrnehmung gedeihen. Der Wille zur Präzision ist es, durch den Aufmerksamkeit, Unterscheidungsfähigkeit, Intellekt und Verstand geschult werden. Ein wacher und beobachtender Geist ist das Steuerungszentrum, unter dessen Regie die gegenläufigen Kräfte im Asana an genau der richtigen Stelle ins Gleichgewicht gebracht werden können und sich gegenseitig aufheben. Dadurch entsteht Ruhe – wie im Auge des Zyklons. Dieser Ort des Gleichgewichts sollte genau in der Mitte des Körpers liegen – dort, wo das periphere mit dem zentralen Nervensystem, der Körper mit dem Geist zusammentrifft – in der Wirbelsäule. Dies ist der Ort, an dem die körperlich-sensorischen Empfindungen auf den interpretierenden und bewertenden Geist treffen, der Ort, an dem der Informationsaustausch für so komplexe Prozesse wie Fühlen, Denken, Entscheiden und Handeln stattfindet. Genau hier – in der Wirbelsäule – kann die wechselseitige Durchdringung von Körper, Geist und Seele unmittelbar wahrgenommen werden – sofern im Asana Gleichgewicht erlangt wird. Auch die komplexeste Haltung wird in völliger Balance als geradezu schwerelos empfunden – ein Zustand, der (wenn auch nur für kurze Zeit) mit einem Gefühl absoluter Freiheit und ruhiger Glückseligkeit (Samadhi) einhergeht und den Yogi in einem Zustand tiefen Friedens zurücklässt. Dies ist die Durchdringung oder Verbindung von Körper, Geist und Seele im Yoga – Integration.

 

 

Um Gleichgewicht im Asana zu erlangen, genügt es allerdings nicht, den Körper punktuell zu zentrieren. Vielmehr braucht es Zentrierung an jedem beliebigen Punkt der Wirbelsäule und auf den beiden für Asana relevanten anatomischen Ebenen (median und frontal). Dafür sind neben der Zentrierung eine klare Ausrichtung (Alignment) und die genauest mögliche Abstimmung der einzelnen Elemente der Haltung (Adjustment) aufeinander unabdingbar. So hängen Alignment und Zentrierung ebenso zusammen wie Adjustment und Balance. Ein genau ausgerichtetes und zentriertes Asana, das über feinstmögliche Abstimmung seiner einzelnen Elemente Gleichgewicht erfährt, kann (obwohl eine nicht-natürliche Pose) zu einer organischen Skulptur verschmelzen. Diese Metamorphose nennt B. K. S. Iyengar Integration. Zwar ist es nahezu unmöglich, Perfektion in der Umsetzung der (biophysischen) Idee des Asana zu erlangen. Darum geht es in der Praxis auch gar nicht. Vielmehr ist das Asana eine Blaupause für eine spezifische energetische Struktur, die in der Performance – je genauer, desto intensiver – ihre Wirkung entfaltet. Ein Ziel in der Praxis des Iyengar Yoga ist demnach, die Verweildauer im Asana immer weiter auszudehnen. Je länger die Verweildauer, desto feiner das Adjustment, desto freier der Strom der Energie (Prana), desto intensiver die Wirkung auf die spezifischen Konzentrationspunkte eines Asanas.

 

 

Im Zentrum der Haltung, dort, wo sich all die inneren und äußeren Kräfte aufheben, steht der Geist still – in ruhiger Betrachtung sämtlicher körperlicher Aktivität und emotionaler Bewegung. Keinerlei Bewertung stört die Wahrnehmung. Es ist reine Erkenntnis. Das ist Dhyana (Meditation), das siebte Glied des Ashtanga. Jeder kennt den einen oder anderen Randbezirk dieses Phänomens. Es ist ein natürlicher Zustand, wenn der Körper entspannt, Geist und Emotionen ausgeglichen sind. Im daily life ist es nahezu unmöglich, seine Zusammensetzung und Entstehung zu entschlüsseln. Es ist das „In-der-Mitte-Sein“, im Auge des Zyklons, ruhig und im Gleichgewicht.

 

 

Yoga ist die Methode, die Wissenschaft, die diesen Zustand zum Ziel hat, ihn seziert; das Handwerk und die Kunst, die ihn immer wieder neu kreieren. Wenn regelmäßige Yogapraxis zum Bestandteil des Lebens wird, strahlt die Klarheit der Mitte ins tägliche Leben. Yoga wird Leben – Leben wird Meditation.

 

 

Bilder:

 

Trikonasana – Dreieck (Zentr. frontal)

 

Parivrtta Trikonasana – gedrehtes Dreieck (Zentr. frontal)

 

Parivrtta Trikonasana (Zentr. frontal)

 

Ardha Chandrasana – Halbmond (Zentr. frontal)

 

Vrksasana – Baum (Zentr. median)

 

Prasarita Padottanasana (Zentr. median)

 

Ardha Sirsasana – halber Kopfstand (Zentr. median)

 

Salamba Sirsasana – Kopfstand (Zentr. median)

 

Halasana – Pflug (Zentr. median)

 

Shavasana – Leichnam (Zentr. median)